Klimaschutz durch Sektorenkopplung: Optionen, Szenarien, Kosten

Die Diskussion um Strategien und Maßnahmen der Sektorenkopplung ist im vollen Gange und wird sich im Verlauf des nächsten Jahres weiter intensivieren. enervis hat im Auftrag einer Gruppe gaswirtschaftlicher Unternehmen die Dekarbonisierung des Wärmemarktes untersucht. Diese enerviews beleuchten verschiedene Pfade zur Sektorenkopplung und prognostizieren mögliche Kosten dieser Pfade. Im Mittelpunkt stehen dabei der Wärmemarkt und die Betrachtung der Effekte von Kohleausstieg, Vollelektrifizierung und Einsatz von grünem Gas bis zum Jahr 2050. Die Studie kann hier heruntergeladen werden.

Aktuell steht unter dem Stichwort „Sektorenkopplung“ die Nutzung erneuerbaren Stroms insbesondere im Wärme- und Verkehrssektor im Fokus des energiepolitischen und -wirtschaftlichen Interesses. Dabei kommt der Dekarbonisierung der Wärmeerzeugung eine besondere Aufmerksamkeit zu. Hier werden zentral zwei verschiedene Strategien diskutiert: So wird eine Elektrifizierung der Wärmeerzeugung, insbesondere durch die verstärkte Nutzung von elektrischen Wärmepumpen, erwogen. Andererseits kann auch durch die Erzeugung und Nutzung von synthetischem Gas − im Folgenden Power-to-Gas − der Wärmesektor dekarbonisiert werden.

Diese enerviews beleuchten verschiedene Pfade zur Sektorenkopplung und prognostizieren mögliche Kosten dieser Pfade. Im Mittelpunkt stehen dabei der Wärmemarkt und die Betrachtung der Effekte von Kohleausstieg, Vollelektrifizierung und Einsatz von grünem Gas bis zum Jahr 2050.

Diese verschiedenen Pfade haben naturgemäß weitreichende Auswirkungen auf den Gasmarkt und die Gasinfrastruktur.

Methodik & Szenarien

Diese Studie untersucht sechs verschiedene Szenarien, die die Bandbreite der möglichen Sektorenkopplungsstrategien – insbesondere hinsichtlich des Strom- und Wärmesektors – abbilden. Die Szenarien werden in einem kombinierten Strom- und Wärmemarktmodell ausgewertet. Die Modelle ermöglichen u.a. eine detaillierte Analyse der Wirkungen der Sektorenkopplung auf den Strommarkt sowie der Klimaschutz- und Kosteneffekte, die daraus folgen. Die Abbildung zeigt die betrachteten Szenarien.

Entwicklungen im Wärmemarkt
Alle modellierten Szenarien dieser Studie gehen von weiteren Effizienzanstrengungen und einem – aus heutiger Sicht – ambitionierten Rückgang des Nettowärmebedarfes um 25 % bis 2050 aus. Bei einer auf Kosteneffizienz ausgerichteten Entwicklung wird Erdgas bis 2050 weitgehend der Vorzug gegenüber anderen Energieträgern im Wärmemarkt gegeben (Szenarien „Weiter wie bisher“ und „Weiter wie bisher und Kohleausstieg“).

Zur weiteren Reduktion der CO2-Emissionen sind zusätzliche Maßnahmen notwendig. Soll diese Reduktion durch eine Elektrifizierung der Wärmerzeugung erfolgen, so ist zur Erreichung einer Einsparung von 80% der CO2-Emissionen im Wärmemarkt gegenüber 1990 ein moderater Anstieg des Strombedarfes im Wärmemarkt notwendig (Szenarien „Graue / Grüne Elektrifizierung“). Selbst in diesen Szenarien spielt Erdgas auch über 2040 hinaus eine substanzielle Rolle als wichtige Option zur kosteneffizienten Reduktion der CO2-Emissionen im Wärmemarkt.

Im Vergleich dazu steigen die benötigten Strommengen bei einer anvisierten Einsparung von 95 % der CO2-Emissionen massiv an (Szenario „Grüne Vollelektrifizierung“). Dies ist insbesondere darauf zurückzuführen, dass bei einer vollständigen Elektrifizierung auch Wärmebedarf mit hohen Temperaturniveaus elektrifiziert wird, für den statt der Wärmepumpentechnologie ineffizientere Direktheizer genutzt werden. In den Segmenten mit höheren Temperaturniveaus sind die Effizienzvorteile einer Elektrifizierung der Wärmerzeugung beim Endkunden ggü. Erdgastechnologien begrenzt.

Alternativ können diese Emissionsreduktionen auch durch die Bereitstellung einer großen Menge (mehr als 500 TWh/a) an synthetischem und bilanziell CO2-freiem Gas mittels Power-to-Gas erreicht werden (Szenario „Grünes Gas“).

Stromverbrauch und Spitzenlast
In den Szenarien „Graue Elektrifizierung“ und „Grüne Elektrifizierung“ wird die Wärmeversorgung soweit elektrifiziert, dass der Stromverbrauch nach anfänglichen Rückgängen wieder zunimmt und im Ergebnis 2050 auf einem Niveau etwas oberhalb des heutigen liegt (rd. 600 TWh).

Im Szenario „Grüne Vollelektrifizierung“ steigt der Stromverbrauch durch die Beiträge für den Wärmesektor deutlich an. Im Jahr 2050 liegt hier der Stromverbrauch bei rund 790 TWh.

Im Szenario „Grünes Gas“ steigt der Stromverbrauch bedingt durch den Einsatz von Power-to-Gas-Anlagen schnell und insbesondere ab 2025 deutlich an. Im Jahr 2050 beträgt der Stromverbrauch 1.450 TWh.

Betrachtet man die nationale Spitzenlast abzüglich der Beiträge Erneuerbarer Energien (Residuallastspitze) ergibt sich ein anderes Bild. In den Szenarien „Graue/Grüne Elektrifizierung“ und „Grüne Vollelektrifizierung“ steigt diese langfristig auf rund 80 GW, bzw. rund 104 GW in kalten Jahren an. Die Residuallastspitze im Szenario „Grünes Gas“ sinkt langfristig auf unter 50 GW, da die Power-to-Gas-Anlagen durch ihre systemdienliche Einsatzweise nicht zur Spitzenlast beitragen.

Ausbau der Erneuerbaren Stromerzeugung
Um diese Stromverbräuche emissionsfrei zu decken, kommt es zu einem z.T. massiven Ausbau der Stromerzeugung aus Erneuerbaren Energien (EE). Der EE-Ausbau erfolgt dabei so stark wie notwendig um die CO2-Ziele zu erfüllen.

So liegt das auszubauende EE-Erzeugungspotenzial im Szenario „Grüne Vollelektrifizierung“ im Jahr 2050 bei rund 1.600 TWh und somit um den Faktor 2 über dem Stromverbrauch in Höhe von 790 TWh. Dies ist zurückzuführen auf die massive Abregelung sowie den Export von EE-Strom in diesem Szenario.

Wenn kein deutlicher Ausbau geeigneter alternativer Stromspeichertechnologien erfolgt, ist die Nutzbarkeit von EE-Erzeugung als „Wärmestrom“ begrenzt. Dies ist zurückzuführen auf die begrenzte Übereinstimmung von EE-Erzeugungsprofilen (insb. Wind und Einstrahlung) und den temperaturgetriebenen Verbrauchsprofilen der Wärmerzeuger. Mit steigender Anforderungen an die Dekarbonisierung sinkt der Grenznutzen jeder weiteren EE-Erzeugung, da diese mehrheitlich in die Abregelung bzw. in den Export geht, in beiden Fällen aber keine Beiträge zu Dekarbonisierung in Deutschland leistet.

Konventionelle Stromerzeugung & Back-Up
In allen Szenarien spielen Erdgaskraftwerke bei der Absicherung des Systems eine entscheidende Rolle. Sie tragen kosteneffizient zur CO2-Reduktion bei und übernehmen zunehmend wichtige Back-Up-Funktionen.

Der Leistungsbedarf in den Szenarien „Graue Elektrifizierung“ und „Grüne Elektrifizierung“ liegt um rd. 24 GW in der Spitze höher als in den Szenarien ohne Elektrifizierung der Wärmeerzeugung. In dem Szenario „Grüne Vollelektrifizierung“ liegt der Leistungsbedarf 29 GW über dem in den Szenarien mit niedriger Elektrifizierung bzw. 53 GW über dem Szenario „Grünes Gas“.

Durch die Elektrifizierung steigt der Leistungsbedarf ab dem Beginn der 2030er Jahre, wenn sich zeitgleich die Wirkung des Kohleausstieges intensiviert. Diese beiden Effekte addieren sich somit in ihrer Wirkung auf den Leistungsbedarf des Systems. Sollte der notwendige Ausbau von Back-Up-Kapazitäten nicht schnell genug erfolgen, um den Bedarf des Kohleausstieges und der Elektrifizierung zu kompensieren, so wäre aus energiewirtschaftlicher Sicht der Kohleausstieg insbesondere vor dem Hintergrund deutlich niedrigerer CO2-Vermeidungskosten vorrangig zu verfolgen.

Entwicklung des Gasverbrauchs
Erdgas spielt in allen Szenarien eine signifikante Rolle bis mindestens zum Jahr 2040. So sinkt der Erdgasverbrauch in den ambitionierten Dekarbonisierungsszenarien zwar ab, bleibt aber auch bis 2040 oberhalb von 50 % des aktuellen Niveaus. In den weniger ambitionierten Dekarbonisierungsszenarien liegt der Erdgasverbrauch auch langfristig auf einem recht hohen Niveau. So sinkt der Erdgasverbrauch nicht unter 65 % des heutigen Niveaus.

Durch einen beschleunigten Kohleausstieg wird die Rolle von Erdgas in der Verstromung auch über eine primäre Back-Up Funktion hinaus aktiviert. In diesen Szenarien spielt nicht nur Erdgas eine wichtige Rolle, sondern auch die Gasnetzinfrastruktur selbst, welche in Kombination mit den Gaskraftwerken eine Rolle als Flexibilitätsoption zum Ausbalancieren der EE-Einspeisung einnehmen kann.

Im Szenario „Grünes Gas“ liegt der Gasverbrauch inkl. synthetischer Gase auch langfristig etwa auf dem heutigen Niveau. Der Anteil grüner Gase ist hier entsprechend hoch und dominant. Auch in diesem Szenario mit erhöhten Effizienzanstrengungen im Strom- und Wärmesektor sowie einem massiven Ausbau der Sektorenkopplung ist die Gasverwendung und die dazugehörige Infrastruktur anschlussfähig. Die gasbasierten Wärmeerzeuger und Infrastrukturen werden hier auch langfristig ausgelastet und wirken effizienzsteigernd für das Energiesystem.

Entwicklung der CO2-Emissionen
Im Szenario „Weiter wie bisher“ kommt es zu einer Reduktion der Emissionen, insb. durch den weiteren Ausbau der Erneuerbaren Energien im Stromsektor und den Rückgang der Kohleverstromung durch den altersbedingten Marktaustritt von Kohlekraftwerken. Eine „Dekarbonisierung“ entlang der politischen Ziele wird jedoch weder im Strom noch im Wärmesektor – und dementsprechend auch nicht insgesamt – erreicht. Im Ergebnis wird bis 2030 eine Reduktion um 47 % und bis 2050 um 71 % erreicht. Zur Einhaltung der politischen Ziele sind also weitere Maßnahmen notwendig.

Ohne einen beschleunigten Kohleausstieg ist eine effektive Dekarbonisierung von Strom und Wärme nicht möglich. Ein effektiver und zeitnaher Kohleausstieg stellt somit eine wichtige Voraussetzung erfolgreicher Klimaschutzanstrengungen dar. Der Kohleausstieg ist auch eine Vorbedingung für eine klimapolitisch sinnvolle Sektorenkopplung von Strom/Wärme. So zeigen Detailbetrachtungen, dass die Auslastung von Kohlekraftwerken durch eine Elektrifizierung der Wärmeerzeugung steigen kann („Graue Elektrifizierung“).

Die Szenarien zeigen auch, dass das ambitionierte -95% CO2-Ziel für 2050 über unterschiedliche Sektorenkopplungsstrategien erreicht werden kann. In Bezug auf die Effektivität der CO2-Zielerreichung ist die Sektorenkopplung per Power-to-Gas grundsätzlich gleichwertig mit der Sektorenkopplung per Elektrifizierung. So erreichen beide Szenarien („Grüne Vollelektrifizierung“ und „Grünes Gas“) bis 2050 das -95 % Ziel.

Systemkosten
Die beiden weitreichenden Sektorkopplungsstrategien („Grüne Vollelektrifizierung“ und „Grünes Gas“) liegen auf einem ähnlichen Systemkostenniveau, hier mit leichten Vorteilen für das Szenario „Grünes Gas“. Beide Szenarien weisen sehr hohe Systemkosten auf. Dies gilt insbesondere für das Szenario „Grüne Vollelektrifizierung, welches mittlere Mehrkosten von rd. 30 Mrd. Euro p.a. bis zum Jahr 2050 aufweist. Dies entspricht in Summe über den Betrachtungszeitraum rd. einer Billion Euro.

Orientieren sich die politischen Ziele an einer weitreichenden CO2-Reduktion (oberer Zielkorridor), so kann die Sektorenkopplung über den Gasmarkt unter den Annahmen dieses Szenarios (insb. einer starken Kostendegression bei Power-to-Gas) einen wichtigen Beitrag zur Kosteneffizienz des Systems leisten.

Eine vorzeitige technologische Festlegung, z.B. auf eine Elektrifizierung, würde dieses Potenzial ausschließen und begrenzt daher den Lösungsraum für eine kosteneffiziente und umfassende Dekarbonisierung. Gerade die Gasnetzinfrastruktur stellt langfristig eine wichtige energiewirtschaftliche Option dar.

Aus den Ergebnissen kann mittelbar auch geschlussfolgert werden, dass es, neben den beiden hier untersuchten „Extremszenarien“ („Grüne Vollelektrifizierung“ und „Grünes Gas“), die entweder eine weitreichende Elektrifizierung oder weitreichenden Einsatz von Power-to-Gas vorsehen, effiziente Mischszenarien zwischen diesen beiden Strategien gibt.

Die ermittelten CO2-Vermeidungskosten zeigen durch ihre Höhe klar auf, dass der Wettbewerb um eine kosteneffiziente Lösung im Wärmemarkt noch nicht abgeschlossen ist. Es werden weitere Entwicklungen und Innovationen benötigt, um die politisch vorgesehene Emissionsreduktion zu tragbaren Kosten zu erreichen. Bei den hier resultierenden Vermeidungskosten wären auch aktuell weniger im Fokus stehende CO2-Vermeidungsoptionen, wie beispielweise CCS, wirtschaftlich umsetzbar. Eine technologische Festlegung auf die weitere Entwicklung bis 2050 ist vor diesem Hintergrund verfrüht. Stattdessen ist ein Wettbewerb zwischen Technologien und Lösungsansätzen nötig.

Was bedeutet dies nun für die Marktakteure?
Die unterschiedlichen Sektorkopplungsstrategien haben weitreichende Auswirkungen auf nahezu alle Märkte und Wertschöpfungsstufen.

Die Marktakteure stehen nun vor der Aufgabe, die Auswirkungen auf ihren Markt und ggf. Ihre Marktposition zu bewerten und geeignete Strategien zu entwickeln. Es gilt die Risiken einzuschätzen und zukunftsfähige Konzepte zu entwickeln, um Chancen zu nutzen. Wir unterstützen Sie in der Strategiediskussion durch die Erstellung von Studien und Prognosen mit unserer enervis-Modelllandschaft.
Fragestellungen sind hier u.a:

  • Wie entwickelt sich das Volumen im Gasmarkt (Exploration, Import, Vertrieb)?
  • Wie ist die Perspektive Ihres Gas- oder Stromnetzes?
  • Welche Auswirkung hat die Sektorenkopplung auf den Strommarkt, den Strompreis und den Wert Ihres Kraftwerkes oder Speichers?
  • Welche Chancen liegen im Wärmemarkt begründet?
  • Wie steht es um die Wirtschaftlichkeit von P2G und Stromspeichern?
  • Was bedeutet die Sektorenkopplung für die südlichen Nachbarmärkte (Österreich, Schweiz)?

Daneben wird es wichtig sein, in der Diskussion der nächsten Jahre die Position des jeweiligen Unternehmens und der Branche energiewirtschaftlich fundiert zu begründen. Hier stehen wir Ihnen gern als Ansprechpartner für die externe Positionierung in der politischen Diskussion zur Verfügung.

enervis-Autoren
Julius Ecke, Sebastian Klein

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