Jahresendrally oder Auftakt eines Transformationsprozesses?

Betrachtungen und Analysen zur Situation der französischen Kernkraftwerke, den Auswirkungen auf den Strompreis sowie ein Ausblick auf ein Engpassmanagement zwischen Deutschland und Österreich

Ja ist denn heut schon Weihnachten? Das haben sich wohl einige Marktteilnehmer in den vergangenen Wochen mit Blick auf die day-ahead Strompreisnotierungen gefragt. Eine rasante Rally führte Stundenpreiskontrakte in Frankreich und der Schweiz bis in den – teils hohen – dreistelligen Bereich mit spürbaren Rückwirkungen auf das deutsche Marktgebiet. Turbulente Zeiten, auch in der Energiewirtschaft. Zwischendurch dann auch noch die Ankündigung (oder schon ein Beschluss?) der BNetzA zur Aufhebung der gemeinsamen Strompreiszone Deutschland/Österreich und der Einführung eines Engpassmanagements ab Mitte 2018. Wie ist dies einzuordnen und welche Auswirkungen ergeben sich daraus? Doch der Reihe nach.

Knappheitspreise in Frankreich

Bereits im Frühjahr 2016 räumte der französische Energiekonzern Areva Mängel beim Kraftwerksbau ein. Betroffen waren auch Bauteile für Atomreaktoren. Gemeinsam mit dem Kraftwerksbetreiber EDF sollten die Problemfälle im Einzelnen geprüft werden. Das Ausmaß der Ergebnisse war zu diesem Zeitpunkt noch vollkommen unbekannt. Auslöser waren erkannte Mängel im Reaktordruckbehälter des sich im Bau befindlichen Kernkraftwerks Flamanville (geplante Inbetriebnahme Q4 2018, geschätzte Gesamtkosten über zehn Mrd. Euro (ca. 6.500 €/kW)), woraufhin die französische Behörde für Nuklearsicherheit ASN eine eingehende Prüfung an 18 französischen Reaktoren ähnlicher Bauart veranlasste. Die Befürchtungen bestätigten sich. Unregelmäßigkeiten an den Stahllegierungen der Dampfreaktoren bei wenigstens 12 Reaktoren wurden festgestellt. Vor allem Bauteile eines japanischen Zulieferers wiesen Materialfehler auf. Daraufhin wurden von EDF Mitte Oktober 5 der untersuchten Anlagen sofort unplanmäßig heruntergefahren, die restlichen betroffenen Anlagen sollen unmittelbar in Intervallen für weitere Inspektionen vom Netz gehen. Vollkommen unsicher ist, wie lange die Stillstandszyklen andauern. Zur Einordnung: 75 % des französischen Stromverbrauchs werden durch Kernenergie gedeckt.

Insbesondere vor den anstehenden Wintermonaten mit sehr hohen Nachfragespitzen (2012: 103.000 MW / 01/2016: 89.000 MW) ist dies eine beunruhigende Nachricht.

Es wird befürchtet, dass etwa die Hälfte der 58 französischen Reaktoren (63.250 MW) von diesen technischen Problemen betroffen sind. Mitte Oktober waren dann 22 Reaktoren (22.700 MW) aufgrund von Instandhaltungsmaßnahmen bzw. Stillstandsanordnungen nicht am Netz. 17 Reaktoren davon sollten bis zum Jahresende wieder in Betrieb sein. Allerdings zeigten sich bei einigen Anlagen weitere Unregelmäßigkeiten, sodass die angestrebten Wiederinbetriebnahmezeitpunkte nicht zu halten waren.

Diese, das letzte halbe Jahr andauernden, Unsicherheiten mit immer neuen Mitteilungen, Ankündigungen von Stillständen, Verlängerung von Stillstandszeiten, verminderter Stromerzeugung und nicht zuletzt vielen offenen Fragen und unausgesprochenen Befürchtungen haben zu einer zunehmenden Nervosität an den europäischen Strommärkten geführt. Einerseits ist bislang offen, inwieweit diese Unregelmäßigkeiten auch andere europäische Kernkraftwerke betreffen. Technische Probleme in den belgischen und Schweizer Kernkraftwerken sind seit einiger Zeit bekannt. Aktuelle Veröffentlichungen zum fragwürdigen Umgang mit der Notfallkühlung von Reaktoren betreffen vor allem ältere Anlagen, insbesondere in Osteuropa. Andererseits zeigte sich die Nervosität rund um die Entwicklungen in den französischen Kernkraftwerken seit Oktober in deutlich steigenden day-ahead Strompreisnotierungen.

Eine durchaus nachvollziehbare Marktreaktion, wenn die Unsicherheiten um das Ausmaß der Unregelmäßigkeiten und die Bedeutung des französischen Kernenergiesektors für die europäische Stromversorgung in Betracht gezogen werden. Mitte November wurde dieses Bild jedoch etwas relativiert und die Lage scheint sich zu beruhigen. Wie angespannt die Situation allerdings noch immer ist, lässt sich aus einer Meldung von vergangener Woche ablesen. EDF kündigte an, dass 2 Reaktoren entgegen der Pläne erst Ende Dezember anstatt Ende November wieder ans Netz gehen. Hektik im Markt und Preisausschläge nach oben waren die Folge.

Erstaunlich ist zumindest, dass sich die Frontquartalnotierungen von diesen Entwicklungen bisher wenig beeinflusst zeigen.

Hier sehen wir (noch) relativ moderate Preise und keine hektischen Ausschläge. Es ist zu vermuten, dass die generelle Markteinschätzung wohl von einem temporären, kurzfristigen Problem ausgeht und (noch) keinen langfristigen Engpass im französischen Markt erwartet. Dies unter der Prämisse, dass die durch die ASN angeordneten technischen Überprüfungen im Verlauf des Winters koordiniert und im Zeitplan durchgeführt werden sowie keine weiteren Untersuchungen nach sich ziehen.

Vor dem Hintergrund dieser Unsicherheiten und der europäischen Tragweite von möglichen längerfristigen und massiven Kernkraftwerksausfällen in Frankreich, erscheint ein Blick auf das sich dann einstellende Stunden- und Tagesstrompreisniveau interessant und sinnvoll. Wirft man den Blick nochmal zurück ins Jahr 2016, stellt sich die Frage: Lassen sich die preislichen Auswirkungen solcher Marktentwicklungen, die scheinbar unvorhergesehen und radikal auftreten, tatsächlich antizipieren und glaubhaft im Rahmen von Szenarien modellgestützt abbilden?

Analysen, die wir in diesem Zusammenhang mit unserem Strommarkt-Fundamentalmodell durchgeführt haben, zeigen in einem ersten Schritt – im Sinne eines Backtesting des Jahres 2016 – inwieweit sich die Ausprägung und Entwicklung der diesjährigen relevanten Marktparameter (nicht nur des französischen Marktes) tatsächlich auf das day-ahead Strompreisniveau ausgewirkt und welches Strompreisniveau sich modellseitig eingestellt hat. Die Ergebnisse der Modellierungen zeigen, dass dem am Markt beobachtbaren Preisniveau bis Mitte November 2016 nicht nur in Höhe sondern auch in Struktur fundamentale Elemente zugrunde liegen können.

Infolge des Ausfalls der Kernkraftkapazitäten kamen im französischen Markt in der 2. Jahreshälfte vermehrt ältere GT und ölgefeuerte Kraftwerke mit sehr hohen Grenzkosten zum Einsatz. Zudem wurde von Frankreich verstärkt Strom (teuer) importiert. Auch in der Schweiz sind Knappheitstendenzen erkennbar (Ausfall von 2 Kernkraftwerken, geringes Wasserdargebot). Frankreich – sonst zuverlässiger Lieferant – gibt dieses Jahr, aus den skizzierten Gründen, deutlich weniger Strom an die Schweiz ab, so dass zeitweise ein ungewöhnlich hoher Stromfluss aus Italien in die Schweiz zu verzeichnen war. Aufgrund der Transitfunktion des Schweizer Marktes treten in der derzeitigen Marktsituation in Spitzenzeiten sonst eher unübliche (da teure) Handelsflüsse von Italien über die Schweiz nach Frankreich auf. Der italienische Kraftwerkspark ist vor allem durch Gaskraftwerke geprägt. Sollten diese gebraucht werden, steigt bei einem Einsatz auch das Strompreisniveau. Es lässt sich festhalten, dass das derzeitige Markt- und Preisgeschehen an den europäischen Strommärkten durchaus fundamental nachvollziehbar ist.

Sollten diese Turbulenzen mehr als eine Momentaufnahme sein, sondern eher den Auftakt eines grundsätzlichen Transformationsprozesses kennzeichnen, erscheint ein Blick auf künftige Strommarkt- und Strompreisentwicklungen durchaus empfehlenswert. Nicht nur, um die wichtigen Treiber des Marktes frühzeitig zu identifizieren und zu bewerten, sondern um unter sich ändernden Rahmenbedingungen zielgerichtet die eigene Marktpositionierung vorzunehmen.

Preisentwicklung Kraftwerkssteinkohle
In Anbetracht der Entwicklung des day-ahead Strompreisniveaus in 2016 sollte ein wichtiger Treiber allerdings nicht in Vergessenheit geraten: Der Einfluß der Steinkohlepreise auf das day-ahead Strompreisniveau 2016 in Deutschland war deutlich erkennbar. Die Flaute am Markt für Kraftwerkssteinkohle scheint seit etwa Mitte des Jahres vorüber. Zentraler Treiber war der chinesische Markt. Zwar lag der Kohleverbrauch in China 2016 unter den Werten des vergangenen Jahres. Allerdings führte eine konsequente Stilllegung alter, ineffizienter Kohleminen zu einem spürbaren Rückgang der chinesischen Förderung und zu einem deutlich höheren Importanteil. Im Verbund mit Förderrückgängen im asiatischen Raum erlebte der globale Preis für Kraftwerkssteinkohle einen deutlichen und sehr spürbaren Anstieg im Jahresverlauf. Infolge des immer noch großen Anteils an strompreissetzenden Steinkohlekapazitäten in Deutschland (und in Verbindung mit einem unterjährig wieder anziehenden Gaspreis, was der Wettbewerbsfähigkeit von Kohle zuträglich war) prägte die Entwicklung des Steinkohlepreises auch zu einem guten Teil die Strompreisentwicklung in 2016.

Engpassmanagement Deutschland Österreich
Mit dem Blick in die Zukunft rückt zudem eine aktuelle Entwicklung in den Fokus, die seit einiger Zeit von den Betroffenen höchst interessiert verfolgt wird: Die geplante Aufhebung der gemeinsamen Strompreiszone Deutschland/Österreich und die Einführung eines Engpassmanagements ab Mitte 2018.
Die europäische Regulierungsagentur Acer hat sich bereits im September 2015 für ein perspektivisches Engpassmanagement beim Stromtransport zwischen Deutschland und Österreich ausgesprochen. Begründet wird dies durch temporär sehr hohe Handelsflüsse (in der Spitze >10 GW) zwischen Deutschland und Österreich. Die tatsächliche Netzkuppelkapazität liegt lt. BNetzA deutlich unter diesem Wert. Weiterer Grund dafür waren die sogenannten Ringflüsse über Polen und Tschechien. Eine Überprüfung der momentanen Übertragungskapazität durch die BNetzA ergab, dass tatsächlich nur 3 bis 4 GW (n-1)-sicher über die Grenze Deutschland/Österreich übertragen werden können, ohne die Netze der Anrainer dafür mit in Anspruch zu nehmen. Daher stellte sich aus Sicht der Regulierer die Frage nach der Erforderlichkeit eines Engpassmanagements.

Auf Basis der Verordnung der EU-Kommission zur Festlegung einer Leitlinie für die Kapazitätsvergabe und das Engpassmanagement (CACM 08/2015) wird der Zuschnitt von Gebotszonen regelmäßig überprüft. Erste Überprüfungen und Vorarbeiten für die deutsch-österreichische Gebotszone haben bereits stattgefunden. In Konsequenz dieser Gemengelage hat die BNetzA die vier deutschen Übertragungsnetzbetreiber im Oktober 2016 aufgefordert, eine Engpassbewirtschaftung an der Grenze zu Österreich einzuführen. Das Engpassmanagement soll ab dem 3. Juli 2018 gelten. In aktuellen Studien der BNetzA (Bericht zur Reservebedarfsfeststellung (04/2016); Genehmigung Szenariorahmen Netzentwicklungspläne (06/2016)) werden Engpassszenarien zwischen Deutschland und Österreich als künftiger Basisfall modelliert. Schließlich hat Anfang November Acer einer Aufteilung der deutsch-österreichischen Strompreiszone zugestimmt.

Unter diesen Vorzeichen ist es inzwischen geboten, einer Preiszonentrennung erheblich höhere Aufmerksamkeit beizumessen als noch zu Beginn des Jahres. Insbesondere österreichische Versorger dürfte diese Konstellation direkt tangieren. Nach aktuellen enervis-Berechnungen würde durch eine Engpassbewirtschaftung der Grenzkuppelstelle Deutschland-Österreich – abhängig von der Höhe der technischen Begrenzung der Transferkapazität – das mittlere jährliche Großhandelsstrompreisniveau in Österreich kurzfristig um etwa 2% bis 15% ansteigen, wobei sich wesentliche Effekte unterjährig auf das Winterhalbjahr konzentrieren.

Allerdings, und das ist wiederum ein interessanter Aspekt für die deutsche EE-Branche, hätte eine Begrenzung der Grenzkuppelleistung mit Österreich sowie der Einsatz der Phasenschieber an den ostdeutschen Grenzen unmittelbar Einfluss auf Häufigkeit und Höhe von negativen stündlichen Strompreisen und damit, legt man die Regelungen im §51 EEG zugrunde, auf die Wirtschaftlichkeit von EEG-geförderten Windanlagen.

enervis verfügt über umfangreiche Marktmodelle zur Abbildung und Analyse von Strommärkten. Basierend auf ökonomischen und energiemarktspezifischen Fundamentaldaten erlauben diese Modelle zeitlich hochaufgelöste Strompreisprognosen und Marktanalysen. Auch als Onlinetools für die Nutzung in ihrem Unternehmen!

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enervis-Autor
Mirko Schlossarczyk

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